Journaling- …oder auch Liebes Tagebuch

Ich habe seit 2015 die Angewohnheit, jeden Abend mindestens ein paar Sätze über den zurückliegenden Tag zu schreiben. Tagebuch schreiben also, obwohl diese Bezeichnung zugegebenermaßen bei mir persönlich eine Asoziation mit kleinen Mädchen und Zöpfen, und Einträgen wie „Liebes Tagebuch, heute war Thomas voll gemein zu mir…“ hervorruft.

Neumodisch würde man es vermutlich also als Journaling bezeichnen. Die Inhalte sind auch nicht mehr so infantil, sondern meistens – vorausgesetzt es gibt Anlass dazu – tiefgründiger. Ich persönlich bezeichne diese Bücher daher als meine „Seele“, weil ich komplett ehrlich hineinschreibe, was mich beschäftigt, oder was ich über die Dinge denke. Dazu aber später mehr.

Manuel Rubey schreibt in seinem ersten Buch „Der will nur spielen“ folgendes dazu:

„Ich nenne meine täglichen Seiten bewusst nicht Tagebuch, sondern Chroniken. Das habe ich mir von Dylan abgeschaut. Es trifft die Sache sehr gut, weil ich den Druck gleich rausnehmen möchte, dass diese Seite in irgendeiner Weise besonders sein muss. Diese eine Seite schult eine Sache, die jeder und jede braucht, die es mit dem Spielen, dem Schöpferischem oder dem Kreativen, nenne Sie es doch, wie Sie wollen, ernst meint: Disziplin. Eine Seite ist immer zu schaffen.“

Tagebuch schreiben hat aber auch andere Effekte, als nur die Disziplin zu schulen. Es gibt viele Benefits, die das tägliche Schreiben mit sich bringen.

Was mir persönlich das tägliche Schreiben im Laufe der Jahre gebracht hat, ist dass ich meine Emotionen reflektiere. Oft wird mir bewusst, dass mich ein Erlebnis stark triggert. Dass es so ist, und warum, ergründe ich beim Schreiben. Ich DENKE MIT DER HAND. Wenn ich den zurückliegenden Tag nochmal durchdenke, erlebe ich die schönen Begegnungen und Kleinigkeiten, oder Erlebnisse erneut. Für das Gehirn ist das ganz tolles Futter, denn es wird positiv beeinflusst. Ich erlebe das Positive erst, denke darüber nach und schreibe es dann nochmal auf. Wiederholt positive Gedanken bringen dich nämlich dazu, positiv zu denken. Das habe ich auch an mir bemerkt.

Auch in meinem Leben ins nicht immer Ponyhof-Modus. Ich motze auch mal in meine „Seele“ hinein, aber auch hier eher, um zu analysieren. Das Negative hinterfrage ich so lange, bis ich verstehe, warum ich auf Situationen stark reagiere. Manchmal dauert das auch länger, aber im Prinzip ist es ein bisschen so, als würd ich mich selbst therapieren.  Und wenn die Sache, die mich so sehr beschäftig ein extrinsisches Problem ist, versuche ich einen Weg zu finden, um die Situation aufzulösen.

Es gibt viele andere Methoden, Tagebuch zu führen. Vorgedruckte Bullet-Journals mit Fragen gibt es, man kann sich jeden Tag eine gewisse Zeit für’s Schreiben nehmen, man kann sich auf ein gewisses Thema konzentrieren,… Was dir wichtig ist, darüber kannst du scheiben.

Auch wenn der Fokus, oder das Thema individuell ist, das Schreibmaterial ist wichtig. Schreiben mit der Hand ist nicht das Gleiche, wie auf einem Touchscreen, oder einer Tastatur zu tippen. Für mich persönlich ist auch die Auswahl des Buches selbst ein kleines Ritual geworden. Immerhin begleitet es mich ein ganzes Jahr lang – wenn es nicht ausreichend Seiten hat, muss es im gleichen Format erweiterbar sein. Zu schwer und groß darf es auch nicht sein, weil es auch auf jede Reise mitkommt und im Rucksack nicht zu viel Platz wegnehmen darf.

Ich habe meistens tatsächlich erlebt, dass es am ehesten an mangelnder Disziplin scheitert, wenn sich jemand vornimmt täglich zu schreiben. Daher ist es wichtig, das tägliche Schreiben zur Gewohnheit zu machen. Dazu schreibt Rubey:

„Ich habe mir Schreibrituale und Schreibzeiten organisiert. Ich habe Schreib-Playlisten. Rituale sind wichtig. Ob man sich ein Glas Wein einschenkt, Tee kocht oder manisch raucht dabei, ist jedem selbst überlassen. Wenn ich jeden Tag am Schreibtisch erscheine, ist die Belohnung, dass es immer leichter wird, dass ich nur staunen und zuhören muss.“

Weiter schreibt er dann – und das ist in meinen Augen die Belohnung für das tägliche Schreiben: 

„Es ist wirklich interessant, was da so zum Vorschein kommt. Das Narrativ entsteht ganz automatisch, wenn ich nur geduldig bleibe. Und das Paradox ist: Obwohl man immer genauer hinsieht und vielleicht schmerzvolle Details niederschreibt, entsteht gleichzeitig eine Distanz zu den Dingen. Schreiben bedeutet, die eigene Geschichte zu erzählen, und zwar sich selbst. Als angenehmen Nebeneffekt bietet es noch Entwirrung. Wie nebenbei wird auch klar, was ich loslassen möchte, wovon ich mich trennen will.“

Ich habe meine Bücher und die Stifte am Nachttisch liegen und vorm Schlafen ist das letzte, was ich mache, etwas hineinzuschreiben.

Meine Bücher haben sich im Laufe der Jahre verändert. Von ein bisschen chaotisch und kreuz und quer hin zu Struktur. Das ist natürlich nicht durch das Schreiben entstanden, doch die Entwirrung hat geholfen auf dem Weg dorthin. Könnte ich bei einem Feuer nur ein paar Dinge aus meinem Haus retten, wären meine Tagebücher definitiv dabei, so wertvoll sind sie für mich. Es kommt auch immer wieder mal vor, dass ich etwas nachlese, weil ich nicht mehr genau weiß, wie ich mich in einer Situation aus der Vergangenheit gefühlt habe. Manchmal ist es auch einfach nur amüsant, was ich vor ein paar Jahren geschrieben habe. Aber ablegen werde ich diese Angewohnheit in diesem Leben bestimmt nicht mehr. Ich kann das tägliche Schreiben und Reflketieren von ganzem Herzen empfehlen.

Zitat-Quelle: Rubey, Manuel: „Der will nur spielen“, Wien-Graz: Moden Verlag, 2022.